Coach Herdman hebt Kanada auf neues Level

Coach Herdman hebt Kanada auf neues Level

Dass der Fußball John Herdman irgendwann einmal das Leben gerettet hätte, wäre dann doch eine Übertreibung. Dennoch ist es fair zu sagen, dass sich die ganze Sache etwas anders entwickelt hätte, wäre da nicht der Nationalsport seiner Heimat.

Statt mit der kanadischen Nationalmannschaft auf der größten Bühne der Welt Geschichte zu schreiben, hätte der smarte 47-Jährige ebenso gut in der nordenglischen Gosse von Newcastle oder Sunderland landen können.

Herdman war um die 16 Jahre alt, als seine kleine, heile Welt zusammenbrach. Die Stahlfabrik im County Durham machte dicht, die Eltern ließen sich scheiden und der Vater, der ihn als kleiner Junge immer mit ins Stadion von Newcastle United genommen hatte, bekam schwere psychische Probleme. «Das waren zwei verdammt harte Jahre, da hätte alles auch leicht in eine andere Richtung gehen können», sagt Herdman. «Und wissen Sie, dass ich als Trainer angefangen habe, hat uns gewissermaßen gerettet.» Es sei von da an eine unfassbare Reise gewesen: «Ich werde das wahrscheinlich eines Tages alles aufschreiben und hoffe, die Leute lesen das gern.»

Jugendzeit prägt Trainer Herdman bis heute

Immer noch ein Teenager, bezog Herdman allein eine Sozialwohnung, belegte erste Trainerseminare und bekam ein Buch des amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson in die Finger. Diese Zeit prägt ihn bis heute. Herdman zieht die Essenz seiner Lebenseinstellung daraus: «Frage niemandem nach etwas, nimm von niemandem etwas, mach einfach weiter. Mach einfach weiter. Ich habe einen sehr starken Willen. Und wenn ich von einer Sache überzeugt bin, gebe ich mein Leben dafür.»

Um sein Ziel zu erreichen, scheut der nur 1,65 Meter große Herdman nicht vor ungewöhnlichen Wegen. Weil er nur für die Uni-Mannschaft Fußball gespielt hatte, bekam er in England über die Arbeit in der Akademie von Sunderland nicht wirklich eine Chance. Also flog er ans andere Ende der Welt und übernahm in Neuseeland die Nationalmannschaft der Frauen. Fünf Jahre später zog der smarte Coach, dem eine enorme Motivationsfähigkeit zugesprochen wird, weiter nach Kanada. Mit den Fußballerinnen holte er bei den Olympischen Spielen 2012 und 2016 jeweils Bronze.

Dann trennte sich der Verband vor vier Jahren von seinem Männer-Trainer. Man wollte einen Neustart, einen Anfang mit mehr Tiefe, mit mehr Hintergrund – so bot man Herdman den Job an und stattete ihn mit umfassender Macht aus. Der Brite ist für alle kanadischen Nationalmannschaften bis runter zur U14 verantwortlich. Das große Ziel war eigentlich die Heim-WM 2026, doch die Qualifikation packte das Team schon jetzt für das Turnier in Katar.

Kanada will die WM in Katar genießen

Dieser Erfolg hat den enorm ehrgeizigen Herdman entspannter werden lassen. Denn nun muss er niemandem mehr etwas beweisen. Es gab offenbar nicht gerade wenige Zweifler, die ihm keinen Erfolg zutrauten, weil er eben zuvor auf Top-Niveau ausschließlich mit Frauen gearbeitet hatte. «Ich hatte das enorme Verlangen, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Davon muss ich jetzt loslassen, denn das ist einfach ungesund», sagt Herdman.

Die WM in Katar sei etwas, was er und seine Mannschaft genießen wollen. Es kann sowieso nur besser werden. Einmal war Kanada 1986 in Mexiko bei der WM dabei, schied als tor- und punktloser Gruppenletzter in der Vorrunde aus. Am ersten Tor war man schon gegen Belgien verdammt nah dran, doch Alphonso Davies von Bayern München verschoss einen Elfmeter. Nun soll es am Sonntag gegen Kroatien klappen. In das Olympia-Turnier von London 2012 war Herdman übrigens ebenfalls mit einer Niederlage gestartet, am Ende gewannen die kanadischen Frauen das Spiel um Platz drei.

Die Nationalspielerinnen waren nicht zwingend glücklich, ihren Trainer an die Männer verloren zu haben. Die gegenseitige Wertschätzung ist immer noch immens. «Dieser Mann hat etwas, was viele Trainer nicht haben und das ist die Fähigkeit, eine wirkliche Verbindung zu den Spielern zu schaffen und das Beste aus ihnen herauszuholen. Er ist ein unfassbarer Motivator. Das kann man nicht lernen, das ist eine Gabe», sagt Ex-Nationalspielerin Melissa Tancredi. Die 40-Jährige ist sich zudem sicher, dass das Team Canada unter Herdman auch in Katar mit mindestens dem ersten Punkt Geschichte schreiben wird: «John ist für diese Turniere gemacht. Er hat das alles schon durch, er kennt den Druck.»

Tom Bachmann, dpa