Fans und Emotionen sollen Kerber tragen

Fans und Emotionen sollen Kerber tragen

Halbfinale! In Wimbledon! Das kann Angelique Kerber nicht mehr erschüttern.

Fast zehn Jahre nach ihrem ersten Semifinale bei einem Grand-Slam-Turnier, nach vielen Höhen und einem missratenen ersten Halbjahr kann die beste deutsche Tennisspielerin seit Steffi Graf mit solchem Druck umgehen.

«Was ich gelernt habe: dass die Angst der Feind von jedem von uns ist», sagte die 33-Jährige vor der Partie an diesem Donnerstag (Spielbeginn 14.30 Uhr/Sky) gegen die Weltranglisten-Erste Ashleigh Barty aus Australien.

Voller frischem Selbstbewusstsein, das Kerber mit jedem Tag mehr auf der geliebten Anlage im Südwesten Londons versprüht, geht die einstige Nummer eins in ihr größtes Match seit dem Titelgewinn 2018. Neun Jahre nach dem ersten Auftritt in der Vorschlussrunde mit der damaligen glatten Niederlage gegen die Polin Agnieszka Radwanska ist es für Kerber das vierte Halbfinale in Wimbledon, wo sie 2016 das Endspiel gegen Serena Williams verlor und sich zwei Jahre später dafür bei der langjährigen Branchenführerin revanchierte. Zum dritten Mal nach den Australian Open 2016 und den US Open im selben Jahr triumphierte Kerber bei einem der vier wichtigsten Turniere.

Den ersten Titel danach holte sie zuletzt beim kleinen, von ihr mitorganisierten Turnier in Bad Homburg.

«Es fehlte die Überzeugung, die hat sie sich Match für Match wieder erspielt», erklärte die deutsche Damentennis-Chefin Barbara Rittner die Serie von nunmehr schon zehn Siegen in Serie. Nach dem Achtelfinal-Aus beim Rasenturnier in Berlin hätte sie mit der deutschen Nummer eins länger gesprochen, berichtete Rittner. Dazu helfe Kerber die Rückkehr der Fans. «Ich glaube im Leben nicht, dass sie ohne Zuschauer im Wimbledon-Halbfinale wäre», sagte Rittner der Deutschen Presse-Agentur. «Angie lebt von Emotionen.»

Glauben an eigene Stärke ist zurück

Und von ihrem Willen, der sie in London schon durch einige schwierige Momente in den bisherigen Partien trug, aber auch durch Phasen des Nachdenkens über die eigene Karriere. Dafür gab es viel zu viel Zeit, erst durch die monatelange, coronabedingte Pause im vorigen Jahr, dann während einer Quarantäne in Melbourne, der folgenden Erstrunden-Niederlage bei den Australian Open und dem ebenso frühen Aus auf dem ungeliebten Sand bei den French Open.

Noch kurz vor der Enttäuschung in Paris unterstrich sie, ihr Ziel sei es, bei den großen Turnieren wieder nach oben zu kommen. «Ich habe nie aufgehört, an mich und mein Team zu glauben», sagte Kerber jetzt. Sie arbeite hart – «bis ich das schaffe, was ich schaffen möchte».

Eine komplette Auszeit sei kein Thema gewesen – so wie einst bei ihrer nächsten Gegnerin Ashleigh Barty. Die 25-Jährige war vor zehn Jahren, als Kerber mit dem US-Open-Halbfinale in die Weltspitze vorstieß, Juniorensiegerin im Wimbledon. 2014 wurde Barty alles zu viel, sie hörte mit dem Profitennis auf, zog wieder in die Nähe von Brisbane, spielte professionell Cricket und kehrte erst 2016 zurück. Von Platz 271 der Weltrangliste im Jahr 2017 schaffte es die French-Open-Siegerin von 2019 ganz nach oben – und lässt die große Tennis-Nation Australien auf den ersten Wimbledonsieg bei den Damen seit Evonne Goolagong Cawleys Erfolg vor 41 Jahren hoffen.

Barty lässt Australien hoffen

Genau wie Kerber blendet Barty derartige Dinge nach eigenen Worten komplett aus und bleibt bei sich. Während der Corona-Pandemie verließ sie die Heimat monatelang nicht, nun spielt sie aus Kerbers Sicht das beste Tennis ihrer Karriere. Beide respektieren sich sehr, beide freuen sich auf ihr fünftes Duell – bisher steht es 2:2.

Barty erinnerte an das verlorene Finale 2018 vor den heimischen Fans in Sydney. Es habe ihr damals noch ein Extraschritt gefehlt, um mit jemandem von Kerbers Kaliber mithalten zu können. «Sie macht dir keine Geschenke. Sie kämpft um jeden Punkt. Sie hat Grand Slams gewonnen. Sie weiß, wie man in schweren Momenten dranbleibt», sagte Barty – es war auch eine Metapher für Kerbers Karriere.

Sollte die Kielerin tatsächlich in ihr fünftes Grand-Slam-Finale einziehen, könnte sie dort auf ihre Finalgegnerin von den US Open 2016 treffen, die auch schon die Nummer eins der Welt war. Die Tschechin Karolina Pliskova trifft im anderen, ebenso hochkarätigen Halbfinale auf die an Nummer zwei gesetzte Aryna Sabalenka aus Belarus, ebenfalls ausgestattet mit starken Aufschlägen. Das Endspiel sei noch weit weg, sagte Kerber – Angst davor dürfte sie nicht haben.

Von Robert Semmler, dpa