Italiens letzte «magische Nacht» – Titel-Party in Rom

Italiens letzte «magische Nacht» – Titel-Party in Rom

Italiens neue Fußball-Helden schwenkten stolz den silbernen EM-Pokal, winkten den jubelnden Fans zu und stimmten dann spontan die Nationalhymne an. Mit einer Fahrt im offenen Bus durch die Straßen Roms feierte die Squadra Azzurra mit Tausenden jubelnden Fans ihren zweiten EM-Titel.

«Das ist das Schönste, die Freude mit den Fans zu teilen», sagte Nationaltrainer Roberto Mancini. «Wir haben seit gestern Morgen nicht geschlafen, aber das ist es Wert.» Langsam bahnte sich der Bus den Weg, aus den Lautsprechern schallte der Refrain «notti magiche» – magische Nächte – des WM-Hits 1990 «Un’estate italiana» von Gianna Nannini, der das Team seit dem Eröffnungsspiel in Rom durch die EM begleitet hatte.

Empfang beim Staatspräsidenten

Zuvor hatten Staatspräsident Sergio Mattarella und Regierungschef Mario Draghi die Mannschaft empfangen und ihre Leistung bei dieser Europameisterschaft gewürdigt. «Ihr seid Vorbilder, auch für uns», sagte Draghi und erinnerte an das dramatische EM-Finale vom Vortag. Durch ein 3:2 im Elfmeterschießen gegen England hatten sich die Azzurri im Londoner Wembley-Stadion zum zweiten Mal nach 1968 zum EM-Champion gekrönt. Nach 120 Minuten hatte es zwischen beiden Teams 1:1 gestanden.

Angeführt wurde die große Titelsause von Kapitän Giorgio Chiellini und seinem Abwehr-Partner Leonardo Bonucci. «Diese Gruppe hat auch in schwierigen Momenten nie ihre Seele verloren», würdigte der 36 Jahre alte Chiellini seine Teamkollegen. Den silbernen Pokal hatte das Duo schon im Verlauf des Tages nicht aus den Augen gelassen. Am Morgen hatten sich die beiden Profis von Juventus Turin ein paar Stunden Schlaf in den Hotel-Betten gegönnt und den Pokal in ihre Mitte genommen. «Keine Angst, er wird gut schlafen. Wir passen auf ihn auf», schrieb Bonucci zu einem Foto der breit grinsenden Fußballer.

Titelcoach Mancini versteckte seine müden Augen bei der Ankunft in Rom zunächst hinter einer Sonnenbrille und gönnte sich dann einige Stunden Ruhe bei seiner Familie. «Wir können noch nicht begreifen, was wir geschafft haben», sagte er. Schon im Morgengrauen hatten Hunderte glückliche Tifosi die EM-Sieger am Flughafen und am Teamhotel in Empfang genommen. Kapitän Chiellini reckte mit einer goldenen Krone auf dem Kopf stolz die Trophäe in die Höhe.

Persönliche Genugtuung für Mancini

Mit dem Triumph hatte sich Italien nach der verpassten WM 2018 eindrucksvoll auf der großen Bühne zurückgemeldet. «Wir haben daran geglaubt», sagte Bonucci, der sein Team mit dem Treffer zum 1:1 (67. Minute) ins Elfmeterschießen gebracht hatte. «Die große Schande von 2018 ist fast vergessen», meinte der «Corriere dello Sport».

Die wundersame Wiederauferstehung der Squadra Azzurra ist eng mit dem Namen Mancini verknüpft. «Der Trainer hat uns gezeigt, dass wir etwas Außergewöhnliches schaffen können, wenn wir daran glauben», sagte Bonucci. «Dieser Sieg ist der Beweis, dass man immer daran glauben muss. Auch wenn man ganz unten ist.» Für den Coach war der Triumph von London auch eine persönliche Genugtuung, nachdem er als Spieler unter anderem bei der WM 1990 den Titel verpasst hatte. «Wir hatten damals Pech, heute hat sich ein Kreis geschlossen», sagte der 56-Jährige. «Etwas hat das Schicksal mir wohl geschuldet.»

Nach dem Triumph weinte Mancini in den Armen von Delegations-Chef Gianluca Vialli, mit dem ihn eine lange Freundschaft mit Höhen und Tiefen verbindet. Nach der Siegerehrung ging er mit Medaille um den Hals ein paar Schritte nachdenklich über den Rasen, gemeinsam mit Torschütze Bonucci schoss er dann ein kurzes Erinnerungs-Selfie. «Mancinissimo», titelte die «Gazzetta dello Sport» am Montag.

Italien glänzt mit besonderem Teamgeist

Mancini hat eine Mannschaft geformt, die sich mit Offensivdrang und Mut, vor allem aber mit einem besonderen Teamgeist gegen alle Widerstände zum EM-Titel gekämpft hat. «Wir haben gespürt, dass etwas Magisches in der Luft lag», sagte der 36 Jahre alte Chiellini. Sein zwei Jahre jüngerer Kollege Bonucci ergänzte: «Wir haben immer noch eine verrückte Lust, als Team zusammen zu sein. Das ist unglaublich.» 34 ungeschlagene Spiele in Serie und der erste große Titel für Italien seit dem WM-Triumph 2006 in Deutschland sind der Lohn.

Der Spirit der Mannschaft zeigte sich auch bei der Siegerehrung: Der erste, der seine goldene Medaille entgegennehmen durfte, war Leonardo Spinazzola. Der Linksverteidiger, der sich im Viertelfinale einen Riss der Achillessehne zugezogen hatte, war während der Party mit Gipsbein stets mittendrin – meistens huckepack bei einem seiner Teamkollegen. «Olé, olé, Spina, Spina», skandierte die Mannschaft bei der Titel-Sause vor der italienischen Fankurve im Wembley-Stadion.

Routinier-Duo als Anführer

Angeführt wurde die Mannschaft vom Routinier-Duo Chiellini und Bonucci, das in der Squadra Azzurra mit dem verlorenen EM-Finale 2012 und der verpassten WM 2018 schon so manchen Rückschlag hinnehmen musste. «Wir haben es geschafft, ein ganzes Volk glücklich zu machen, das ist legendär. Es ist das Schönste, was existiert», schwärmte Bonucci. Nur vier Gegentore ließen die Verteidiger im Turnierverlauf zu und waren damit die Basis für die Titel-Krönung.

Großen Anteil daran hatte auch Keeper Gianluigi Donnarumma, der im Elfmeterschießen sowohl im Halbfinale gegen Spanien als auch im Endspiel der gefeierte Held war und zum besten Spieler des Turniers gewählt wurde. «Ich war sicher, dass er einen Elfmeter halten würde. Er ist der beste Torhüter der Welt», lobte Mancini. Der Keeper selbst sagte um Worte ringend: «Wir waren spektakulär, wir waren grandios.»

Erst 22 Jahre ist Donnarumma alt und damit wie viele seiner Teamkollegen auch ein Versprechen für die Zukunft des italienischen Fußballs. Mancini hat seinen Vertrag langfristig bis 2026 verlängert, die WM im kommenden Jahr in Katar ist das nächste große Ziel der Azzurri. So weit wollte Mancini aber inmitten des großen Jubels noch gar nicht vorausblicken, erst einmal genoss der Coach den Moment: «So etwas Schönes habe ich noch nie erlebt», sagte er sichtlich gerührt. «Der Pokal ist nach 1968 zurück in Italien, das ist unglaublich.»

Von Miriam Schmidt, Jan Mies und Nils Bastek, dpa