Japan 1964: Viel Politik, Geschichte und Kuhweides Kampf

Japan 1964: Viel Politik, Geschichte und Kuhweides Kampf

Willy Kuhweide und Bernd Dehmel schoben gerade ihre Jollen in das olympische Gewässer vor Enoshima. Beide dachten jeweils, nur sie selbst würden für das gesamtdeutsche Team bei den Olympischen Spielen 1964 in Tokio um die Medaillen im Finn-Dinghy segeln.

Doch es konnte nur einen geben. Auf Geheiß von IOC-Präsident Avery Brundage wurde DDR-Segler Dehmel gestoppt – und ein anderthalb Jahre dauerndes Tauziehen der Segler-Verbände aus Deutschland West und Deutschland Ost eine halbe Stunde vor dem Beginn der Regatta entschieden.

«Es kamen fünf Japaner. Die haben mein Boot festgehalten und mir gesagt, ich möchte bitte wieder hochgehen», erinnerte sich über 50 Jahre danach der spätere Trainer des dreimaligen Olympiasiegers Jochen Schümann an die Situation am 12. Oktober 1964. Das Ergebnis des deutsch-deutschen Sport-Machtkampfs im Schatten des Kalten Krieges: Dehmel wurde zur tragischen Figur, Kuhweide stieg mit seinem Olympiasieg zum (west-)deutschen Segel-Helden auf. «Als ich auf dem Wasser war, konnte ich das Ganze recht gut beiseiteschieben», sagte der 78-Jährige heute über die sportpolitischen Begleitumstände.

Politisch beeinflusste Sommerspiele

Die ersten Olympischen Spiele in Asien vor 57 Jahren waren wie alle Spiele zuvor und danach beeinflusst von der politischen Weltlage. Damals waren es die beiden Machtpole im Westen mit den USA an der Spitze und im Osten mit der UdSSR als führende Kraft – und dazwischen das geteilte Deutschland. Der Mauerbau lag erst drei Jahre zurück.

«Die Spannungen in der Mannschaft waren von der Politik gesteuert», sagte die Dresdner Wasserspringerin Ingrid Gulbin, die in Tokio unter dem Namen Engel-Krämer ihr drittes Gold gewann. «Die Sportler untereinander hatten kein Problem», meinte die 77-Jährige, die bei der Eröffnung die deutsche Fahne tragen durfte.

Für die gesamtdeutsche Mannschaft war es der letzte Auftritt bei Olympischen Spielen für 28 Jahre. In Tokio holte sie noch einmal zehn Mal Gold, 22 Mal Silber und 17 Mal Bronze. Im Oktober 1965 fasste das IOC bei seiner 64. Vollversammlung in Madrid den Beschluss, zwei deutsche Teams zuzulassen. Erst bei den Winterspielen 1992 in Albertville trat das vereinte Deutschland wieder mit einem Team an.

Besondere Bedeutung der Spiele für Japan

Für die Gastgeber hatten die Spiele eine ganz besondere Bedeutung, ähnlich wie die zum «Wunder von Bern» verklärte Fußball-WM 1954 für Deutschland. 19 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs mit der als Schmach empfundenen Niederlage für den einstigen Verbündeten von Nazi-Deutschland und den Verheerungen durch die Atombomben-Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki waren die Spiele die große Chance für die Japaner, ihren Platz in der Staatengemeinschaft wieder einzunehmen.

Anders als in diesem Jahr, bei der es wegen der Corona-Pandemie viele Vorbehalte gegenüber der Sport-Großmesse gibt, waren die XVIII. Spiele der Neuzeit eine nationale Aufgabe für die Japaner. «Für sie sollte dieses Fest der wichtigste Schritt auf ihrem unaufhaltsamen Weg nach oben werden, eine Erfüllung des drängenden Bemühens, daß 1945 verlorene Gesicht zurückzugewinnen», heißt es in einem von Robert Lembke herausgegebenen Olympia-Buch über die Spiele 1964 in Innsbruck im Winter und in Tokio im Sommer.

Dennoch hatten die Organisatoren die jüngste Vergangenheit nicht vergessen. Symbolhaft die Wahl des Schlussläufers des Fackellaufs: Yoshinori Sakai entzündete am 10. Oktober 1964 das Olympische Feuer. Er war am 6. August 1945, dem Tag des Abwurfs der ersten Atombombe auf Hiroshima, in der Nähe der Stadt geboren.

Gute Erinnerungen an die Gastgeber

Die japanischen Gastgeber erinnert Kuhweide als «gebildete und höfliche Menschen, die sich aber niemals aufdrängen». Jürgen Nöldner, Bronze-Gewinner mit der Fußball-Auswahl der DDR, fielen sofort die Mundschutzmasken auf. «Wir haben darüber gelacht – aber die waren clever», sagte der 80-Jährige.

Für Kuhweide endeten die olympischen Regatten mit einem besonderen Erlebnis. Japanische Marinematrosen schulterten ihn nach der letzten Wettfahrt, trugen und feierten ihn im Yachthafen von Enoshima. In Anerkennung für Kuhweides außergewöhnliche Leistung: trotz des politischen Gerangels, einer Mittelohrentzündung und geplatzten Trommelfellen war er überlegen zu Gold gesegelt. «Ich bin mit maximalen Penicilin-Dosen und medizingetränkten Wattebäuschen in den Ohren gestartet, habe die Zeit nur mit der Wolke aus der Startpistole nehmen können», erzählte er.

Der gebürtige Berliner, der heute in seiner Wahlheimat Carefree in Arizona lebt, hat die Szenen mit den Matrosen als «sehr berührend» und als «sehr hohe Wertschätzung» in bester Erinnerung. «Sie waren die Ersten, die mich haben spüren lassen: Diesen Sieg hast du verdient.» Bei einem Wiedersehen 50 Jahre nach den Ereignissen in Enoshima erhielt er auch ein großes Lob von seinem einstigen Rivalen Dehmel: «Willy, Du hast mich ja gut vertreten.»

Von Claas Hennig und Tatjana Pokorny, dpa