Pogacar-Verfolger Vingegaard: Der Junge aus der Fischfabrik

Pogacar-Verfolger Vingegaard: Der Junge aus der Fischfabrik

Jonas Vingegaard packt sich die große Plastikschaufel und schippt einen ordentlichen Schwung Eis in die mit Fisch gefüllte Styroporkiste.

Dann kommt der Deckel drauf, der junge Mann schnappt sich die nächste Kiste. Vor drei Jahren sah so der Tagesablauf des Dänen aus, der bei der Tour de France gerade die Radsport-Welt im Sturm erobert. Damals arbeitete Vingegaard von frühmorgens bis zum Mittag in einer Fischfabrik. Erst danach ging es an der windigen Westküste Jütlands zum Training aufs Rad.

«Ich hatte mehr Motivation zum Training, wenn ich vorher gearbeitet hatte», erzählte Vingegaard. Ob das nun gut oder schlecht für sein Training gewesen sei, darüber habe er sich nie den Kopf zerbrochen. Geschadet hat es offensichtlich nicht. Schließlich ist der 24-Jährige aktuell Zweiter der Tour. Und er war der einzige Profi, der Dominator Tadej Pogacar einmal am Berg distanzieren konnte.

«Jonas hat Charakter gezeigt»

Entsprechend respektvoll redet Pogacar über seinen Konkurrenten, der die knapp sechs Minuten Rückstand bis zum Finale auf den Champs-Élysées am Sonntag sicherlich nicht mehr aufholen wird. «Jonas hat Charakter gezeigt. Er fährt einfach fantastisch», sagte der Slowene und hob ihn gleich auf das Level eines künftigen Dauer-Konkurrenten. «Er wird in der Zukunft noch viel besser, als er es jetzt ist. Er wird sicher bald die Tour de France gewinnen.»

Dass der schmächtige Vingegaard mit seinen 1,75 Metern und 60 Kilogramm überhaupt auf dem Tour-Podium ist, hat viel mit dem Pech in seinem Team Jumbo-Visma zu tun. Die Equipe wollte mit Primoz Roglic eigentlich um den Gesamtsieg mitfahren. Doch der Slowene stürzte auf der dritten Etappe schwer und stieg ein paar Tage später mit großen Schmerzen aus. Und Vingegaard, der Junge aus der Fischfabrik im durch die Olsenbande bekannten Dorf Hanstholm, war sofort bereit.

Traum vom Podium kurz vor der Erfüllung

«Jonas ist beeindruckend. Wir wussten, dass er ein Kandidat für eine Grand Tour ist, aber hatten nicht erwartet, dass er es dieses Jahr schon zeigt», sagte sein Sportlicher Leiter Grischa Niermann. Der Ex-Profi steckte auch gleich das Ziel ab. «Jonas träumt vom Podium in Paris, das ist okay jetzt. Das Zeitfahren wird ihm sehr gut liegen.» Am Samstag werden im Zeitfahren nahe Bordeaux endgültig die Plätze auf dem Podium verteilt.

Die Härte in den Bergen und im Kampf gegen die Uhr hat Vingegaard sich in langen Fahrten in seiner Heimat an der Nordsee geholt. Hier ist das Surferparadies Klitmöller, das kalte Hawaii, nicht weit. Eine ordentliche Brise gibt es praktisch rund um die Uhr und aus allen Richtungen. Aus derselben Ecke kommt auch Michael Valgren, der 2018 sowohl das Amstel Gold Race in den Ardennen als auch den Kopfsteinpflaster-Klassiker Omloop Het Nieuwsblad gewann.

Dass sie in Vingegaard ein gewaltiges Talent haben, das vor allem in den Bergen glänzen kann, erkannten sie schon früh. Als 19-Jähriger begann er seine Karriere beim drittklassigen Coloquick-Team, der Talentschmiede des dänischen Radsports. «Ich mag die Berge einfach. Da kann ich mich zeigen», sagte Vingegaard schon damals. Keine drei Jahre später unterschrieb er bei Jumbo-Visma. Die Equipe steht nun vor der interessanten Frage, wie sie mit ihrem Juwel künftig umgehen.

Von Tom Bachmann und Patrick Reichardt, dpa