Bayern feiern «Phänomen» Kane

Harry Kane verschwand nach seiner nächsten Tor-Show ohne den Spielball als Trophäe in seine luxuriöse Hotel-Suite. Nach zuletzt zwei Dreierpacks in der Liga war der 100-Millionen-Star beim Hochgeschwindigkeits-Gruppensieg des FC Bayern diesmal mit zwei Treffern der gefeierte Mann des Abends. «Ich liebe es, Tore zu schießen und zu gewinnen. Es war eine tolle Nacht», sagte der 30-Jährige nach dem 2:1 gegen Galatasaray Istanbul. Sein Herzenswunsch: Das Champions-League-Finale im nächsten Jahr in seiner langjährigen Heimat London.

«Wir haben unseren Job bislang erledigt, aber es ist immer noch ein weiter Weg», sagte Englands Nationalmannschaftskapitän zur formidablen Gruppenphase. Auch dank seiner Tore: Auf 19 Saisontreffer kommt der teuerste Einkauf der Bayern-Geschichte nach 15 Pflichtspielen. «Er ist ein Phänomen», sagte Kapitän Manuel Neuer. Der 37 Jahre alte Torwart selbst genoss sein erstes Königsklassen-Spiel seit über einem Jahr ganz besonders: «Es war sehr emotional. Die Atmosphäre war gigantisch.» Mit seinen Paraden und seiner Aura ist Neuer ein entscheidender Faktor für die Stabilität des Bayern-Spiels.

Bekannte Erfolgsformel auch in englischer Variante gültig

Hinten Neuer, vorne ein Superstürmer – die Erfolgsformel aus der Lewandowski-Ära funktioniert jetzt auch in der englischen Variante. «Ein Neuner muss an der richtigen Stelle stehen und wenn der Ball kommt, macht er ihn rein», sagte Vorstandschef Jan-Christian Dreesen. «Das hat Gerd Müller – um einen ganz Großen als Reminiszenz zu nehmen – auch getan.» 

Doch nicht nur Dreesen schwärmte davon, dass Kane eben mehr ist als ein klassischer Neuner. Der trotz 30 Jahren immer noch titellose Weltklasse-Angreifer glänzt auch als Ballverteiler oder Tor-Vorbereiter, arbeitet zudem nach hinten mit. Bestmarken aus der Lewandowski-Epoche scheinen für Kane durchaus erreichbar. 

«Ich traue ihm alles zu. Wir müssen ihn nur oft genug in Position bringen», sagte der langjährige Lewandowski-Zulieferer Thomas Müller. «Wenn er in der Nähe des Strafraums oder innerhalb zum Abschluss kommt, dann ist die Gefahr schon hoch, dass der Ball auch mal drin ist.» Dreimal schnappte er sich in dieser Saison schon das branchenübliche Souvenir für einen Dreierpack: Den Spielball.

Kane mit Warnung: Das Geschäft ist die K.o.-Runde

Kane, der in München noch keine Villa für sich und seine Familie gefunden hat und daher noch im Nobelhotel wohnt, sorgte dafür, dass der FC Bayern nach nur vier Spieltagen als Gruppensieger ins Achtelfinale einzieht. Wie in den vergangenen beiden Spielzeiten unter Julian Nagelsmann, der am Mittwochabend erstmals wieder in die Allianz Arena zurückkehrte, streben die Münchner eine makellose Sechs-Siege-Gruppenphase an. «Wir wissen, das Geschäft ist die K.o.-Runde. Dort warten die wichtigen Spiele», warnte Kane. In den vergangenen drei Spielzeiten war für den FC Bayern jeweils im Viertelfinale Endstation.

Dass die bisher vier Siege in der Gruppenphase auch mühsam waren, mochte Trainer Thomas Tuchel nicht als Makel bewerten. «Glänzen sieht auch mal aus wie harte Arbeit», sagte der Bayern-Coach: «Die Punkte glänzen für sich.» Die Champions League sei «der schwierigste Wettbewerb im Weltfußball». 17 Gruppenspiele am Stück haben die Münchner nun gewonnen, das ist Königsklassenrekord.

Tuchel und der Herzstillstand

Verzichten muss Tuchel erstmal auf Jamal Musiala, der zum dritten Mal in diesem Jahr wegen einer Muskelverletzung ausfällt und auch bei den Länderspielen fehlt. Ob Dayot Upamecano am Samstag gegen den 1. FC Heidenheim nach seiner Verletzung zum dritten Mal in einer Woche spielen kann, ließ Tuchel offen. «Wir haben bei jedem Sprint in der zweiten Halbzeit einen Herzstillstand auf der Bank, weil es eh alles viel zu früh ist», schilderte der Coach das Vabanquespiel mit dem Verteidiger.

Umso wichtiger ist es für seine Nerven, dass vorne Kane trifft – und im Tor wieder Neuer pariert. «Was er hinten ausstrahlt, ist außergewöhnlich. Wir sind extrem froh, dass er wieder da ist», sagte Leon Goretzka. Das späte Tor von Cédric Bakambus (90.+3) verhinderte Neuers drittes Zu-Null-Spiel beim vierten Einsatz nach der Rückkehr.

Doch am Sieg änderte das nach dem doppelten Jubel in der 80. und 86. Minute von Kane, der zudem den Pfosten traf, nichts mehr. Rund 100 Millionen Euro Ablöse zahlten die Münchner im Sommer an Tottenham Hotspur. Dreesen amüsierte die Frage, ob die Ablöse angesichts des Torlaufs schon wieder refinanziert sei. 

Dreesen: «Glücksfall»

«Es ist noch nicht so weit, es braucht noch ein bisschen. Aber so darf man ja nicht denken», sagte Dreesen. «Harry ist ein Glücksfall für uns. Dass er so einschlägt, war ja nicht vorhersehbar.» Außer vielleicht für Englands Nationalmannschaftskapitän selbst. «Ich würde nicht sagen, ich bin überrascht, aber natürlich bin ich wirklich glücklich.» 

Von Christian Kunz und Klaus Bergmann, dpa