Die Mission Wiedergutmachung des deutschen Leichtathletik-Teams läuft bei der Heim-EM in München auf Hochtouren. Nur drei Wochen nach dem WM-Fiasko haben die Asse des Gastgebers schon nach zwei Wettkampftagen viermal Gold, dreimal Silber und einmal Bronze auf dem Medaillenkonto.
«Es zeigt, dass die schon totgesagte deutsche Leichtathletik lebt. Es gibt sie noch», befand Niklas Kaul, der mit seine Zehnkampf-Heldentat einer der Hauptdarsteller einer goldenen Nacht war.
Die andere Hauptattraktion des berauschenden wie dramatischen Festabends war auch Gina Lückenkemper. In einem Foto-Finish-Finale gewann sie EM-Gold über 100 Meter – und musste ins Krankenhaus. «Wenn ich schon mal einen EM-Titel gewinne, wollte ich es anders erleben als in der Notaufnahme», meinte 25-jährige Berlinerin. Im Ziel hatte sie sich beim Sturz eine Fleischwunde zugezogen.
«Am Ende waren es nur fünf Tausendstelsekunden, was zeigt, wie eng die Nummer war. Ich wollte das Ding.» Zuletzt war dies Verena Sailer vor zwölf Jahren gelungen. Aus unmittelbarer Nähe schauten die Diskuswerferinnen Kristin Pudenz und Claudine Vita zu, die noch Silber und Bronze beisteuerten.
«Für das ganze Team ist auf jeden Fall schön, dass wir bisher so erfolgreich sind. Es zeigt: Wir können doch noch Leistungssport», sagte die Olympia-Zweite Pudenz, die bei der WM dem Erfolgsdruck nicht gewachsen war. In München fühlte sie sich nun so gepusht durch das Heimpublikum, dass «zehn Prozent mehr Leistung» dabei herauskamen. Bei der WM in den USA konnten nur Weitspringerin Malaika Mihambo (Gold) und die Frauen-Sprintstaffel (Bronze) Medaillen holen. «Wir können uns als Trainer nicht erinnern, so einen Tag jemals erlebt zu haben», sagte DLV-Chefbundestrainerin Annett Stein.
Schlüsse aus WM-Pleite ziehen
«Bei den Europameisterschaften merkt man, die deutsche Leichtathletik ist nicht tot», meinte auch Olympiasiegerin und Weltmeisterin Mihambo, fügte aber hinzu: «Aber sie braucht vielleicht noch ein bisschen was, um in die absolute Weltspitze vorzudringen.»
Schlüsse aus der WM-Pleite zu ziehen und Änderungen vorzunehmen, hält auch Kaul für notwendig. «Ich glaube, dass es Punkte gibt, die nicht optimal laufen und die sollte man auch ansprechen», sagte er. «Ich habe aber auch in Eugene gesagt, dass für die deutschen Leichtathleten der emotionale Höhepunkt in München ist.» Teamkapitänin Lückenkemper, die nach der WM das Fördersystem vor allem für den Nachwuchs ergänzte: «Es gibt viele Baustellen.»
Perfekt war sein Zehnkampf im Olympiastadion nicht, aber spannend wie ein Thriller. Innerlich hatte der 24-jährige Mainzer den EM-Titel nach mäßigem Diskuswurf und Stabhochsprung schon abgeschrieben. Und auch nach dem starken Speerwurf auf 76,05 Meter war das Gold weit entfernt: 27 Sekunden schneller musste er im 1500-Meter-Lauf als der führende Schweizer Simon Ehammer sein, um Gold zu holen.
«Es gab ein Konzept, aber es funktionierte nicht. Das Publikum hat mich getragen», sagte Kaul zu seinem triumphalen Lauf. Nach dem WM-Titel von 2019 ist es sein zweiter Karrierehöhepunkt. Der erste Titel sei eine Überraschung gewesen, Gold bei der Heim-WM für ihn aber der «emotional wichtigere Titel».
DLV-Präsident: «Sternstunde der Leichtathletik»
Für den deutschen Verbandspräsidenten Jürgen Kessing war das eine «Sternstunde der Leichtathletik» – weitere Erfolge bis Sonntag seien möglich. «Den einen oder anderen Medaillenanwärter gibt es noch», sagte er. Dazu zählen vor allem Mihambo am Donnerstag sowie Carolin Schäfer (Siebenkampf), Julian Weber (Speer), Bo Kanda Lita Baehre (Stabhochsprung) oder die Sprintstaffeln der Frauen und Männer.
Trotz des sich abzeichnenden großen Erfolgs für die deutsche Leichtathletik in München hat bereits eine Analyse der Ursachen des des WM-Debakels begonnen. «Wir werden nicht in operative Hektik verfallen, sondern werden es in aller notwendigen Ruhe, Gelassenheit und Geschwindigkeit anpacken», erklärte Kessing. Dabei kann eine starke EM-Bilanz der Nährboden dafür sein. «Jede Medaille hilft und gibt Mut und Zuversicht für die Zukunft», meinte Kessing.